Abstracts
Die Abstracts der Vorträge geben vorab einen kleinen Einblick in die Themen der Tagung. Die Abstracts sind alphabetisch geordnet und geben nicht den Ablauf der Tagung wieder!
 
Prof. Dr. Volker C. Dörr (Erlangen - Nürnberg): "Aber die Zeiten nach dem Krieg waren so verwirrt". Martin Walsers Erzählband Ein Flugzeug über dem Haus: Anfänge im Zeichen Kafkas
 
Martin Walsers erste Buchveröffentlichung, der schmale Erzählband "Ein Flugzeug über dem Haus" aus dem Jahre 1955, ist schon von der zeitgenössischen Literaturkritik als unter deutlichem Einfluss Kafkas stehend gedeutet worden. Dies setzt sich in der Literaturwissenschaft bis heute fort. Der Vortrag will erneut nach Nähe und Distanz des Walserschen Erzählens zu demjenigen Kafkas fragen und jenes dabei vor allem in Kontrast zur prominentesten Kafka-Umschrift der frühen Nachkriegszeit betrachten: Hermann Kasacks Roman "Die Stadt hinter den Strom" (1947).
 
Prof. Dr. Friederike Eigler (Washington): Vom geteilten Berlin zum Bodensee: Heimat in Martin Walsers Verteidigung der Kindheit und Ein springender Brunnen   

Homepage von Friederike Eigler 

Dieser Vortrag geht der Frage nach, wie Heimat – also ein im Kontext der deutschen Geschichte vielfältig konnotierter und ideologisch belasteter Begriff – in Walsers Werken literarisch inszeniert und poetologisch eingesetzt wird. Generell zeichnet sich die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Walser dadurch aus, dass sie sich entweder mit seinen politisch-gesellschaftlichen Positionen beschäftigt oder sich auf die literarische Dimension seiner Werke konzentriert. Die hier vorgeführte Untersuchung der Heimattopoi bei Walser versucht beide Dimensionen miteinander zu verknüpfen. Im Zentrum stehen zunächst einige seiner Essays aus den 60er, 70er und 80er Jahren, die erstaunliche Kontinuitäten hinsichtlich seiner Auffassung von Heimat und Nation aufweisen. Anschliessend geht es dann um zwei im Abstand von sieben Jahren entstandene Romane Walsers: "Die Verteidigung der Kindheit" wurde 1991, ein Jahr nach der Vereinigung Deutschlands publiziert; "Ein springender Brunnen" im Jahre 1998, also im Jahr der Friedenspreisrede. Beide Romane sind höchst unterschiedlich konzipiert und stehen hinsichtlich der hier diskutierten Thematik in komplementärem Verhältnis zueinander. Die nationale und politische Aufladung von Heimattopoi im früheren Roman "Die Verteidigung der Kindheit;" dagegen die Rekurierung auf vormoderne regionale Heimattopoi samt deren kreativem Potential im späteren Werk "Ein springender Brunnen".   

Anita Gröger, M.A. (Freiburg): "Der monströse Versuch, Vergangenheit herzustellen" – Aspekte des 'zweifelnden Erzählens' in Martin Walsers Das Einhorn
 
Martin Walser, Vertreter der ‚jungen deutschen Literatur der Moderne’ (Walter Jens), gestaltet in seinem Roman Das Einhorn (1966) die zentrale Frage, ob das Erzählen als Erinnern von vergangener Wirklichkeit überhaupt möglich ist. Der Ich-Erzähler Anselm Kristlein beschreibt in deutlich formulierter Distanz zu seinem eigenen Erzähl- und Erinnerungsvermögen seinen erfolglosen Versuch, einen Sachroman („öppis Gnaus“) über die Liebe zu schreiben. Das Einhorn ist also ein Roman über das Scheitern eines Romans und entfaltet zugleich die Bedingungen dieses Scheiterns literarisch in sich selbst.
Wie das Erzählen als ‚monströser Versuch, Vergangenheit herzustellen’ auf der narrativen Ebene gestaltet wird -u. a. durch den komplexen, episodenreichen Handlungsverlauf, durch das Spiel mit Erzählgattungen und der Intertextualität, durch die sprachliche Gestaltung des Textes sowie die Entfaltung von Erzählalternativen und die durchgehend mitlaufende Selbstthematisierung auf der metanarrativen Ebene- , soll anhand von Beispielen erörtert werden.
Ziel ist es zu zeigen, dass diese narrativen Verfahren, die ich auf den Begriff ‚zweifelndes Erzählen’ bringen möchte, beim Leser durch ihre illusionsstörende Wirkung eine Distanzhaltung zum Erzähler und zum Erzählten auslöst, wodurch das gesellschaftskritische Potential des Romans zum Tragen kommt.
 
Prof. Dr. Henriette Herwig (Düsseldorf): "Es gibt das Paradies: Zwei für einander. Es gibt die Hölle: Einer fehlt." Die letzte Liebe Goethes in Martin Walsers Roman Ein liebender Mann
 
Abstract folgt
 
Oliver Hepp, M.A. (Bayreuth): Tragödie als Komödie? – Spannungsfelder einer Literaturverfilmung am Beispiel von Martin Walsers Ein fliehendes Pferd  
 
 
In der 1978 veröffentlichten Novelle Ein fliehendes Pferd schildert Martin Walser die problematische Entwicklung zweier Paare in ihrem Urlaub am Bodensee. Ähnlich wie in Goethes Wahlverwandtschaften verändern sich die Konstellationen innerhalb der Paarbeziehungen im Laufe der Begegnungen und des Aufenthaltes und führen zu dramatischen Veränderungen, die in einem Mordversuch gipfeln. In der unmittelbaren Rezeption wird der Text als „einfach und traurig“ (Peter Wapnewski) bezeichnet. Auch die Rückbeziehung des Protagonisten Helmut auf den Philosophen Kierkegaard und die damit verbundenen Reflexionen auf die Grundlagen der menschlichen Existenz bieten eine Einordnung von Walsers Novelle ins ernste Genre eigentlich an. Doch bei der aktuellsten Verfilmung aus dem Jahr 2007 unter der Regie von Rainer Kaufmann fällt auf, dass die Geschichte um das doppelte Beziehungsdrama komödiantisch aufbereitet wird, die Figuren, insbesondere Klaus Buch, werden stark ironisch überzeichnet. Bemerkenswert ist dabei, dass Walser selbst am Drehbuch mitgewirkt hat.
Die Frage des Vortrages soll und kann nun nicht sein, ob die Adaption der Novelle eine adäquate ist, vielmehr soll als Einstieg generell gezeigt werden, wo die Spannungsfelder einer filmischen Adaption von literarischen Werken liegen und so dann speziell bei Walser neue Interpretationslinien in Rückprojektion auf den Text eröffnet werden.                  
 
Dr. Niklas Immer (Trier): Pollux sucht Kastor. Martin Walsers Annäherungen an Goethe
 
 
„Bloß noch Goethegoethegoethe.“ (GH, 34) Mit diesen Worten empört sich Johann Peter Eckermanns Verlobte Hannchen in Martin Walsers Bühnenstück In Goethes Hand (1982) über die einseitige Fixierung ihres Mannes, sich ganz der Goethe-Huldigung verschrieben zu haben, ohne mehr an das eigene Fortkommen zu denken (Fetz 1987; Weitz 1998). Im Hinblick auf die intertextuellen Referenzen in Walsers literarischem Werk wäre es zwar verfehlt, ebenso ausschließlich wie Hannchen zu behaupten, die Schriften des Weimarer Klassikers hätten gleichermaßen intensiv auf Walser gewirkt. Dennoch spielen das Œuvre sowie das Leben Goethes keine unerhebliche Rolle sowohl in Walsers eigenen literarischen Produktionen als auch in seiner Essayistik (Wittkowski 1987). Während er schon in den 1970er Jahren in seinen Texten Goethe hat ein Programm, Jean Paul eine Existenz. Über ‚Wilhelm Meister‘ und ‚Hesperus‘ (1974) und Über Verbindlichkeit bzw. Tendenz des Romans. Am Beispiel ‚Wilhelm Meister‘ (1976) poetologische Eigenheiten des Weimarer Dichters zu bestimmen versucht, gewinnt in seiner prominenten Rede Goethes Anziehungskraft (1982) eine stärker ironische Einschätzung des literarischen Vorgängers Kontur. Dabei arbeitet Walser vor allem die „Schönmäßigkeit“ (GA, 33) von Goethes Werken heraus, indem er anhand des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre die Idealität und Ausgewogenheit der stets lösbaren Handlungskonflikte kritisiert. Trotz dieser Distanzierung behält das Werk Goethes auf der Ebene produktiver Rezeption durchaus inspirativen Charakter, wie dies Gisela Brude-Firnau am Beispiel der Wahlverwandtschaften für die Erzähltexte Ein fliehendes Pferd (1978) bis Ohne einander (1993) nachgewiesen hat (Brude-Firnau 1998). Im Verlauf dieser Periode entsteht außerdem nicht nur das Bühnenstück über Eckermann, sondern auch Walsers Essay Hilfe vom Selbsthelfer. Ein Versuch über Goethe (1986), in dem er völlig unironisch hervorhebt, daß das Bündnis mit Christiane Vulpius als Goethes „größtes Lebenswerk“ (VG, 629) anzusehen sei. Goethe rückt auf diese Weise verstärkt als Mensch und Liebhaber in den Vordergrund, womit eine Perspektive vorbereitet wird, die Walser jüngst mit seinem Roman Ein liebender Mann (2008) eingenommen hat. In der literarischen Gestaltung findet damit Ausdruck, was er in seinem Essay Kritik und Stimmung (2004) zuletzt mit Blick auf sein persönliches Goethe-Verhältnis bekundet hat:
 
Wenn ich Goethe verehre, sagen wir den älteren Goethe, dann stimme ich ihm zu, stimme allem zu, was er dann und dann gesagt oder geschrieben hat. Ich habe Goethe wirklich nicht immer verehrt, also dem Goethe, der Schiller und Kleist und Hölderlin das Leben schwer gemacht hat, habe ich vor 30 und mehr Jahren nicht zustimmen können. Inzwischen ist in mir ein Verständnis für den ganzen Goethe gewachsen, das ich nur noch als Zustimmung erlebe. Als Zustimmung zu allem. Zu jedem Satz, jeder Nuance, zu jeder seiner mir bekannt gewordenen Empfindungen. Und das sind sehr genau überlieferte Empfindungen, sie entstehen aus tausend Situationen, und ich erlebe sie alle mit Zustimmung. Es gibt mich dann fast nur noch als Zustimmenden. Ich bin gewissermaßen selbstlos. (zit. nach: Magenau 2008)
 
In meinem Beitrag möchte ich zunächst die hier skizzierten Wandlungen in Walsers Goethe-Verständnis rekonstruieren und näher konturieren. Ein zentraler Stellenwert soll in diesem Zusammenhang dem Roman Ein liebender Mann zugemessen werden, um zum einen der Frage nachzugehen, welche Art der dichterischen Bezugnahme Walser im Hinblick auf das Vor- und Gegenbild Goethe erkennen läßt. Zum anderen soll untersucht werden, inwiefern Walser das in seinen letzten Werken wiederholt thematisierte Problem der Altersdifferenz – wie etwa in Der Lebenslauf der Liebe (2000), Der Augenblick der Liebe (2004) und Angstblüte (2006) – vermittels der Beziehung zwischen Goethe und Ulrike von Levetzow reinszeniert. Schließlich wird zu bedenken sein, inwieweit Ein liebender Mann auch als literaturstrategischer Entwurf zu lesen ist, der es Walser erlaubt, sich in die Nachfolge von Thomas Manns Goethe-Roman Lotte in Weimar einzureihen.
 
Prof. Dr. Andreas Meier (Wuppertal): Schreiben als Drahtseilakt. Kontroversen der öffentlichen Wahrnehmung Martin Walsers
 
Abstract folgt
 
Dr. Dietmar Till (Berlin): Kunst oder Kommerz: Zur Stellung des Schriftstellers in Ehen in Philippsburg (1957)
 
 
Martin Walsers Debütroman Ehen in Philippsburg bietet in vier thematisch aufeinander bezogenen Blöcken ein Panorama der Philippsburger Gesellschaft der 1950er Jahre. Eine Zentralstellung nimmt dabei, weil er im Anfangs- und Schlussteil auftritt, der junge Journalist Hans Beumann ein, dessen ‚doppelte Ankunft’ in Philippsburg (Teil 1) und der Philippsburger Gesellschaft (Teil 4) erzählt wird. Hat die Forschung bislang den Schwerpunkt auf den Beziehungen innerhalb der Gesellschaft gelegt (überwiegend sind es Dreierbeziehungen: Hans/Anne/Bardame; Dr. Benrath/Cécile/Birga; Dr. Alwin/Cécile/Frau Alwin), so möchte der Vortrag nach einem Figurenpaar fragen, das eine exponierte Opposition darstellt: dem Schriftsteller Klaff, der Suizid begeht, und Hans Beumann selbst, der als Journalist ebenfalls Autor ist. Walser gibt in dem Roman ein ernüchterndes Bild von den Einflussmöglichkeiten kritischer Autorschaft, zeigt aber zugleich auch die Probleme affirmativen Schreibens auf: Zwei Möglichkeiten schriftstellerischer Existenz, die letztendlich beide scheitern. Von dieser Diagnose ausgehend möchte der Vortrag weitere, v.a. expositorische Texte Walsers zur Thematik des Schriftstellers in die Argumentation einbeziehen.
 
Rosa Pérez Zancas (Barcelona): Martin Walsers Ein springender Brunnen: Die Erwiderung auf die jüdische Freundin?  
 
Ruth Klüger – Autorin des 1992 erschienenen Erinnerungsbuches weiter leben. Eine Jugend – und Martin Walser führten seit sie sich 1946 als Kommilitonen in Regensburg kennenlernten bis zur Veröffentlichung seines umstrittenen Schlüsselromans Tod eines Kritikers (2002) eine schwierige doch innige Freundschaft. Mit seiner 1998 gehaltenen Friedenspreisrede in der Paulskirche, die eine Welle gegensätzlicher Reaktionen auslöste und schließlich als „Walser-Bubis-Debatte“ in die Geschichte der öffentlichen Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit einging, hat sich Walser zur Zielscheibe der öffentlichen Kritik in Deutschland bewährt. Tod eines Kritikers war letztendlich ausschlaggebend, dass die ehemalige Symbolfigur der sechziger Jahre, die mit Essays wie Unser Auschwitz (1965) oder Auschwitz und kein Ende (1979) für ein Gedächtnis an den Holocaust in Deutschland appellierte, in ein konträres Rampenlicht gestellt wurde.
Walsers autobiographischer Roman Ein springender Brunnen (1998) wurde von der Rezeption bisweilen als Antwort auf Klügers Autobiographie weiter leben gelesen. Doch gibt es eine stichhaltige Verbindung zwischen beiden Werken? Während Klüger für einen deutsch-jüdischen Dialog hinsichtlich des Holocausts plädiert und sich für persönliche Vergleiche einsetzt, damit eine Annäherung zum Holocaust, „ein Ableiten von dem, was man kennt“, stattfinden kann, rekonstruiert Walser seine Kindheitserinnerungen in einem Roman, in dem Auschwitz nicht vorkommt. Im Mittelpunkt meines Beitrages stehen die Relektüre seines autobiographischen Romans hinsichtlich der Frage, ob sich der „Nachkriegsintellektuelle“, tatsächlich von der jüdischen Freundin reizen ließ, wenn er nicht in der Lage war „zuzuhören“, wie Klüger ihm in weiter leben vorwarf, sowie die Revision der Kritik (z. B. J. Jablkowska oder H. J. Schneider), die Parallelismen zwischen beiden Werken zu dokumentieren versuchen. Bestätigt Ein springender Brunnen somit die Negation einer gemeinsamen Reflexion zwischen Juden und Nichtjuden über den Holocaust? Der Vorschlag eines möglichen Kompromisses soll dazu beitragen, die anschließende Diskussion anzuregen.